Der Blick in die Geschichte – Zeitgeschichte international / Teil 1: Japan, China, Hongkong

Veröffentlicht von as am

Wir alle wissen und haben in den vergangenen Wochen und Monaten wahrgenommen, dass öffentliche Aufmerksamkeit sich oft auf ein oder zwei oder wenige Themen fokussiert, die nachrichtenbeherrschend werden. Dies ist in der Regel durchaus legitim, wenn man bedenkt, was für Ereignisse es waren und sind, die das Leben vieler Menschen beeinflussen, verändern, beschädigen.

Die Probleme, Krisen und Gefahren an anderer Stelle sind jedoch nicht verschwunden und auch vieles, was bereits eine Weile zurückliegt, wirkt auf die eine oder andere Weise noch nach. Deshalb haben wir uns entschieden, im nächsten Kapitel unseres „Blicks in die Geschichte“ Projekte und Beiträge des Grimme Online Award in Erinnerung zu rufen, die sehr unterschiedlich in Form und Inhalt sind, alle aber unter dem Label „Zeitgeschichte: international“ zusammengefasst werden können. Wir wünschen eine hoffentlich interessante Lektüre – und vielleicht (so wie es uns ergangen ist) auch den einen oder anderen Moment, in dem man denkt: Ach ja, das. Kann ja nicht sein, dass das auch schon wieder … Jahre her ist.

geralt/pixabay.com

Zum Beispiel: Die Reaktorkatastrophe von Fukushima, Japan, im März 2011.


Japan

“Keine Zeit für Wut”

Vor der Ostküste der japanischen Hauptinsel Honshū löste ein Erdbeben unter dem Meeresboden einen Tsunami aus, durch den mehr als 22.000 Menschen starben. Im Kernkraftwerk Fukushima Daiichi (Fukushima I) verursachten 13 bis 15 Meter hohe Wellen eine ganze Reihe von Schäden:

„Mangels Kühlung, teils bedingt durch weitere technische und organisatorische Probleme, kam es zur Überhitzung von Reaktoren und Abklingbecken, zur Freisetzung von Wasserstoff in die Reaktorgebäude und zu Kernschmelzen in den Reaktoren 1 bis 3 … Durch gezielte Druckentlastungen der Reaktoren gelangten radioaktive Stoffe in die Umwelt und wurden von wechselnden Winden in verschiedene Himmelsrichtungen weiter verteilt.“

(Quelle: Wikipedia)
Screenshot, April 2013

Zwischen 100.000 und 150.000 Bewohner mussten das betroffene Gebiet verlassen, einige vorübergehend, andere dauerhaft. Das Entsetzen über diese Entwicklungen war so groß, dass auch in anderen Ländern – unter anderem auch in Deutschland – noch einmal ganz neu und ernsthaft über die Risiken von Atomkraft als Energiequelle nachgedacht und auch Konsequenzen gezogen wurden.

Die NZZ hatte 2011 aus der Region berichtet und kehrte zwei Jahre später dorthin zurück. Mit ihrer Multimedia-Webdoku „Keine Zeit für Wut“ suchten die Reporter Marcel Gyr (Text) und Christoph Bangert (Bild) eine Familie und drei weitere Personen wieder auf, die sie damals – unmittelbar nach der Katastrophe – bereits begleitet hatten.

„Aus ganz persönlicher Perspektive erzählen eine Familie mit kleinen Kindern, ein Fischer, eine Schulleiterin und ein pensionierter Taxifahrer, wie sie heute mit den Folgen leben und ihr Schicksal bewältigen. Die Betroffenen geben so einen aktuellen Einblick – trotz verblassender Aufmerksamkeit in der Berichterstattung – und lassen die Ereignisse nicht in Vergessenheit geraten.“

(aus der GOA-Projektbeschreibung 2013)

Neu hinzugekommen als Gesprächspartner war Masami Yoshizawa, ein Bauer und Aktivist, auf den die Reporter nur durch Zufall (und ein wenig Neugierde) gestoßen waren, als sie einen Feldweg entlangfuhren, der unvermutet ins Sperrgebiet um Fukushima herum führte. Er hatte sich geweigert, seinen Hof zu verlassen, und sah sein Ausharren als fortgesetzten Protest gegen Atomkraft.

„Keine Zeit für Wut“ wurde von der Neuen Zürcher Zeitung in Zusammenarbeit mit dem Studio Interactive Things realisiert und im Jahr 2013 für einen Grimme Online Award in der Kategorie Wissen und Bildung nominiert.

Im quergewebt-Interview von 2013 schildert Marcel Gyr das Anliegen, das zu der Webdoku geführt hat:

„Nach der Katastrophe in Japan mit Erdbeben, Tsunami und Atomunfall im März 2011 waren der freie Fotograf Christoph Bangert und ich als Reporter der NZZ im Katastrophengebiet rund um Fukushima unterwegs. Zwei Jahre später kam uns die Idee, die Leute, die wir damals getroffen hatten, noch einmal zu besuchen und zu schildern, was aus ihnen geworden ist. Neben dem persönlichen Schicksal der Betroffenen wollten wir am Beispiel der Porträtierten ganz konkret einzelne Aspekte der Katastrophe aufzeigen.“

Die Webdoku mit Videos, animierten Infografiken und weiteren digitalen Elementen war das Ergebnis intensiver Arbeit,

„die wir während eines Monats praktisch rund um die Uhr geleistet haben. Für die Recherche weilten wir im Februar zunächst zwei Wochen in Japan, gleich anschließend folgte während zwei weiterer Wochen die Produktion in Zürich. Wir wollten die Arbeit unbedingt bis zum Jahrestag der Katastrophe am 11. März abschließen, was uns schließlich auch gelang“.

Die beiden Beteiligten wollten der Katastrophe, „die wie viele andere schnell aus dem öffentlichen Blickfeld gerät“, ein Gesicht geben. Abstrakte Aspekte wie „Entschädigungszahlung durch Tepco, Strahlenbelastung in Schulhäusern, Radioaktivität in Lebensmitteln, Wohnsituation der Evakuierten etc.“ sollten mithilfe von persönlichen Geschichten veranschaulicht und die ganz konkrete Situation der besuchten Personen beschrieben werden. Als Zielgruppen für die Reportage wurden „all jene Leute [benannt], die sich über die vereinfachenden Schlagzeilen hinaus über die Situation im Katastrophengebiet ein Bild machen wollen“.

Quellen auf einen Blick:
Die Projektbeschreibung beim Grimme Online Award 2013.
Das quergewebt-Interview mit Marcel Gyr.
Die NZZ-Webdoku „Keine Zeit für Wut“.


„Anne Frank im Land der Mangas“

Leider nicht mehr online verfügbar ist ein weiteres Projekt aus dem Jahr 2013, mit dem sich (diesmal französische) Reporter auf eine Recherchereise nach Japan begeben haben. Da es aber einen sehr speziellen Ansatz verfolgt und ein ungewöhnliches Thema zum Inhalt gehabt hat, wollen wir es an dieser Stelle dennoch kurz in Erinnerung rufen.

„Zeitdokument und Bestseller: Als Manga avancierte ‚Das Tagebuch der Anne Frank‘ in Japan zum Verkaufserfolg.“

(Quelle: quergewebt-Interview zum Projekt von 2013)

Die am Projekt beteiligten Autoren und Journalisten machten sich in Japan auf die Suche nach den Gründen dafür. Im interaktiven Comic „Anne Frank im Land der Mangas“ schilderten sie in Ich-Perspektive ihre Erlebnisse und Erfahrungen auf dieser Recherchereise:

„Liebevoll gestaltete Zeichnungen, Fotos sowie Originalaufnahmen in Ton und Bild vermitteln dabei die Vorstellungen der heutigen japanischen Gesellschaft von der eigenen Rolle in der Geschichte.“

(aus dem Intro zum quergewebt-Interview mit Guillaume Podrovnik)

„Anne Frank im Land der Mangas“ wurde von Arte angeboten und im Jahr 2013 für einen Grimme Online Award in der Kategorie Wissen und Bildung nominiert.

Screenshot, April 2013

Im quergewebt-Interview von damals erzählte Guillaume Podrovnik, Teil der Redaktion und Produzent, „von einer ungewöhnlichen Spurensuche im ‚Land der Mangas‘“.

Anlass für die Reise und den daraus entstandenen interaktiven Doku-Comic „Anne Frank im Land der Mangas“ war, dass einer der beteiligten Journalisten, Alain Lewkowicz, in der Zeitung gelesen hatte, dass es ein Anne-Frank-Denkmal in der Präfektur von Hiroshima gibt. Daraus entwickelte er die Idee, „einen Bogen zu spannen zwischen den sehr unterschiedlichen Auffassungen und Missverständnissen, die die westliche Welt und Japan gegenüber der Vergangenheit und dem Zweiten Weltkrieg haben“.

„Das Thema von Anne Frank im Land der Mangas spricht potenziell extrem verschiedene Communities an, von Comicliebhabern bis hin zu Geschichtsliebhabern. Mangas haben eine große und aktive Fancommunity im Internet. ARTE, und seine Website, hat ein regelmäßiges Publikum für sein Geschichtsangebot, und außerdem gibt es eine wachsende Gemeinde, die sich für neue Formate und interaktives Storytelling interessiert. Wichtig war, glaube ich, über das traditionelle ARTE-Publikum hinaus neue Zielgruppen anzusprechen, und das haben wir erreicht.“

Quellen auf einen Blick
Die Projektbeschreibung von „Anne Frank im Land der Mangas“ beim Grimme Online Award 2013.
Das quergewebt-Interview mit Guillaume Podrovnik.


China

„Trauern verboten“

Im Jahr 2015 wurde der Beitrag „Trauern verboten“ von SZ online für einen Grimme Online Award in der Kategorie Wissen und Bildung nominiert. Zum damals 25. Jahrestag handelte er von Hintergründen und Folgen der studentischen Proteste auf dem Tiananmen-Platz in Peking, die am 3. und 4. Juni 1989 durch die Regierung gewaltsam niedergeschlagen wurden. Zeitzeugen und Hinterbliebene kamen mithilfe von Video-Ausschnitten des ARD-Studios Peking zu Wort.

Screenshot, April 2015

Vor allem aber ging es in diesem Beitrag um die verbotene Trauer und um die Bemühungen, das Massaker „aus dem kollektiven Gedächtnis“ (aus der damaligen Projektbeschreibung des Grimme Online Award) zu verbannen. Um zu demonstrieren, mit welchen Mitteln dies geschehen war, strichen die Macherinnen und Macher alle Worte und Begriffe aus ihrem Text, die von Zensoren des Mikrobloggingdiensts Weibo anlässlich des 25. Jahrestags blockiert worden waren. Zum Beispiel das Wort „Platz“:

„Wie sie auch die Begriffe ‚jener Tag‘ und ‚jenes Jahr‘ blockieren. Sie verbieten auch die ‚Trauer‘, daonian auf Chinesisch, als Wort und als Tat.“

(aus „Trauern verboten“)

Im Projekttext selbst folgten dann als Beispiele für zensierte Worte etwa: Juni 1989, Nacht vom 3. auf den 4. Juni, Massaker, aber auch „das Jahr 1989“.

„Wer in Baidu Baike, Chinas größter Online-Enzyklopädie sucht, der wird das Jahr 1988 finden und das Jahr 1990. Das Jahr 1989 existiert nicht. Aus der Geschichte gefallen.
Das Massaker vom Platz des Himmlischen Friedens erschütterte die Welt.

In China ist es vergessen.“

(aus „Trauern verboten“)

Im quergewebt-Interview erläuterte Fabian Heckenberger, Redakteur und verantwortlich für die Konzeption, damals „den komplizierten Weg zur Reportage – an der chinesischen Zensur vorbei“.

„Es geht bei “Trauern verboten” darum, anlässlich des Jahrestags die Auswirkungen des Tiananmen-Massakers auf die chinesische Gesellschaft zu skizzieren. In der Wahrnehmung der westlichen Welt ist das Ereignis präsent. Was aber kaum jemanden klar ist: Wie strikt und rigoros das Massaker aus dem kollektiven Gedächtnis in China gelöscht wurde. Unsere Korrespondenten vor Ort sprachen zum Beispiel mit Studenten, die sie nur fragend anblickten, als das Gespräch auf Tiananmen kam.“

Zur Idee hinter „Trauern verboten“ sagte er, dass der Korrespondent Kai Strittmatter vor allem das Vergessen und das Trauerverbot schildern, aber auch anhand von Einzelschicksalen deutlich machen wollte, wie so etwas funktioniere:

„Wie lösche ich ein Ereignis aus dem historischen Gedächtnis? Und wie lehnen sich Menschen dagegen auf?“

Quellen auf einen Blick:
Die Projektbeschreibung beim Grimme Online Award 2015.
Das quergewebt-Interview mit Fabian Heckenberger.
Die Projektwebsite von „Trauern verboten“ bei SZ online.


„Das dunkle System“

Im Mixed-Media-Projekt „Das dunkle System“ von Spiegel Online, das 2019 für einen Grimme Online Award in der Kategorie Information nominiert war, stehen drei Protagonisten im Mittelpunkt: Li Yiwen, Xie Sunming und Sun Jongdae waren zwischen 2009 und 2010 im Lager Xishanping inhaftiert, „einem sogenannten laojiao suo. So wurden jene rund 350 Straflager genannt, in denen Bürger seinerzeit ohne Gerichtsverfahren oder rechtskräftige Verurteilung landeten. ehemalige Inhaftierte eines chinesischen Straflagers“. (aus: Das dunkle System)

Screenshot, April 2019

Die aufwendig produzierte Geschichte verbindet Filmaufnahmen, in denen die Männer von ihrer Haftzeit berichten und über das, was ihnen angetan wurde, mit animierten Grafiksequenzen, die das abbilden, was nicht gefilmt werden konnte; wie etwa die Zwangsarbeit oder die verschiedenen Strafhaltungen, die die Inhaftierten bei geringstem (manchmal gänzlich ohne) Anlass stundenlang annehmen mussten. In vier Kapiteln, „Verhaftet“, „Folter und Zwangsarbeit“, „Die Verwandlung“ und „Traumata“, entspinnt sich die Tortur, der Li, Xie und Sun unterworfen waren – bis hin zu den Beschädigungen, die sie in ihrem Leben „danach“ mit sich tragen. Darüber hinaus haben die Projektbeteiligten zahlreiche Dokumente verlinkt, die das Geschilderte stützen und vertiefen – von der Petition, die Li Yiwen mit anderen Dorfbewohnern abgegeben hatte und die als Anlass für seine Verhaftung diente, bis zu Untersuchungen von Amnesty International und anderen Einrichtungen im Kontext von Straf- und sogenannten Umerziehungslagern.

Im quergewebt-Interview von damals erzählte der Spiegel-Redakteur Stefan Schultz, wie er, seine Co-Autorin Jannika Schultz und Co-Autor Edward Lee vorgegangen sind. Die Vorarbeiten waren aufwendig:

„Wir haben sechs Jahre an dem Projekt gearbeitet, mit Unterbrechungen versteht sich. Meine Frau Jannika, unser chinesischer Kollege Edward Lee und ich sind an alle für die Geschichte relevanten Orte gereist, haben uns mit Ex-Sträflingen, Augenzeugen und unseren späteren Protagonisten getroffen. Die Recherche dauerte fast vier Jahre, da wir tausende chinesische Akten auswerten und übersetzen mussten. Uns war es wichtig, unsere Protagonisten in der Tiefe zu verstehen, die Veränderung ihrer Persönlichkeit und auch die Mechanismen der Straflager genau zu durchdringen.“

Gefragt nach einem prägenden Moment in der Projektentstehung schilderte Stefan Schultz, wie das Team mit Li Yiwen zu dessen Dorf gefahren war. Der Anlass für seine Verhaftung war der Protest gegen die Höhe der Entschädigungen, die seine Nachbarn und er für die Umsiedlung bekommen sollten – denn das ganze Dorf sollte einem Stausee weichen. Nach dem Ende von Lis Aufenthalt im Straflager waren das Dorf geräumt, der Stausee da und sein Haus weitgehend zerstört: unbewohnbar, aber noch begehbar.

„Sein Haus steht recht weit oben an einem Hang und ragte noch halb aus dem Stausee heraus. Seit seiner Verhaftung war Li nicht mehr an diesem Ort gewesen. Jetzt benahm er sich, als würde er noch immer hier wohnen: Er ging ins Haus und räumte auf. Ich habe in diesem Moment begriffen, dass Li noch viel mehr verloren hat als seinen Beruf, sein Geld und seine Freiheit. Er war früher selbst ein regimetreuer Polizist. Durch die Vertreibung von seinem Land und die Folter im Lager war sein Weltbild eingestürzt. Er schien nicht mehr zu wissen, wer er ist.“

Ein YouTube-Interview mit der Co-Autorin Jannika Schultz ergänzt die Darstellung des Projekts im quergewebt-Blog.

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Quellen auf einen Blick:
Die Beschreibung beim Grimme Online Award 2019.
Das Interview mit Stefan Schultz im quergewebt-Blog.
Die Website von „Das dunkle System“


Hongkong

„Hong Kong Diaries“

„Seitdem China das Nationale Sicherheitsgesetz in Hongkong eingeführt hat, herrschen Angst und Unsicherheit in der Stadt. Die Freiheit der Menschen wird zunehmend eingeschränkt, doch die Proteste in der Vergangenheit zeigten deutlich: Millionen Hongkonger und Hongkongerinnen lehnen das kommunistische China ab. Sie wollen Demokratie und Freiheit.“

(von der Projektwebsite)
Screenshot, April 2021

Im Jahr 2021 waren die „Hong Kong Diaries“ für einen Grimme Online Award in der Kategorie „Information“ nominiert. 17 junge Journalistinnen und Journalisten der FreeTech Academy waren der Frage nachgegangen, wie es sich anfühlt, Freiheit zu verlieren. Sie hatten acht Hongkonger gebeten, über einen Zeitraum von zwei Wochen ihr Leben detailliert festzuhalten. Zwei Studenten, eine Journalistin, zwei Lokalpolitiker(innen), ein Kampagnenmanager, ein Künstler, eine weitere Aktivistin (obwohl letztlich alle Aktivist(inn)en sind und waren): Mit ihren Chat- und Sprachnachrichten und ihren Videoaufnahmen zeichnen sie ein Bild von den Protesten gegen das Nationale Sicherheitsgesetz, das die chinesische Regierung in Hongkong eingeführt hat, von Angst und Unsicherheit in der Stadt, aber auch von ihrer fortgesetzten Entschlossenheit, den zunehmenden Repressionen ihren Protest entgegenzusetzen, aufzuklären und Informationen über den Verbleib von Inhaftierten zu verlangen.

Dieses Bild entstand durch acht individuelle Tagebücher der Protagonist(inn)en, in denen sie den Zeitraum von Ende September bis ca. Mitte Oktober 2020 festgehalten und ihren Alltag in Hongkong geschildert haben, der zunehmend unter dem Eindruck von Protesten und ihrer Niederschlagung steht.

„In den ‚Hong Kong Diaries‘ der FreeTech Academy nehmen acht Hongkonger die Nutzer*innen unter hohem persönlichen Risiko in ihre Lebenswirklichkeit mit. Ihre Tagebücher bestehen aus Fotos oder Chat-, Audio- und Videonachrichten. Manchmal zeigen sie Banales, meist aber berichten sie von ihren Gedanken und Sorgen oder von Begegnungen mit der Obrigkeit. Ein authentischer und intimer Einblick in eine Welt voller Repressionen.“

(aus der Projektbeschreibung beim Grimme Online Award)

Der Dokumentarfilm „Hong Kong 2020 – Wie es sich anfühlt, Freiheit zu verlieren.“ fasst die Beiträge zusammen und zeigt in mehr als 20 Minuten auf bedrückende Weise, wie das Engagement, die Wut, die Entschlossenheit der Aktivistinnen und Aktivisten auf das mächtige System treffen.  

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Weitere Hintergrundinformationen umfassen zum Beispiel eine Chronologie der Ereignisse, verbunden mit einer interaktiven Karte, auf der man verfolgen kann, welches Geschehen an welchem innerstädtischen Hotspot angesiedelt war.

Im Quergewebt-Interview berichteten Jonas Feldt und Leonie von Randow über die Entstehung und die Schwierigkeiten des Projektes. Der Wunsch war, die Aufmerksamkeit auf Hong Kong in einer Zeit zu richten, in der die Berichterstattung sehr auf die Pandemie oder (zum Zeitpunkt des Projektbeginns) noch auf Personen wie Donald Trump und den US-amerikanischen Wahlkampf konzentriert war.

„Die Idee dahinter war, dass Hongkong ein bisschen in Vergessenheit geraten ist, gerade auch während der Corona-Pandemie, aber eigentlich ist es trotzdem so akut wie nie. Wir haben dieses Projekt im Oktober letzten Jahres angefangen und im Juni wurde ja das nationale Sicherheitsgesetz in Hongkong beschlossen. Die Bürger wurden dadurch wirklich sehr stark in ihren bürgerlichen Freiheiten eingeschränkt, weil alle möglichen Straftaten sehr vage und sehr schwammig unter Strafe gestellt werden. Alle möglichen Sachen werden weit gefasst wie z.B. ‚collusion with foreign forces‘, was nahezu alles sein kann. Der Aufhänger war, dass die ganze Welt gerade eher auf Corona guckt oder auf die USA, wo ja unter Donald Trump auch sehr viel ‚Trubel‘ war und sich der internationale Blick weg verlagert hat von Hongkong. Und wir wollten ganz bewusst, als dieses nationale Sicherheitsgesetz in Kraft getreten ist, die Öffentlichkeit wieder an das erinnern, was da gerade passiert.“

(Leonie von Randow)

Zu den größten Herausforderungen während der Projektlaufzeit habe die Sicherheit der acht Hongkonger Kontaktpersonen gezählt. Diese hätten hohe persönliche Risiken auf sich genommen und es sei dem Team klar gewesen, dass die Aktivist(inn)en sich womöglich auch eine Freiheitsstrafe einhandeln konnten.

„Joshua Wong zum Beispiel, der ein Vorreiter dieser Bewegung ist, befindet sich jetzt gerade im Gefängnis. Regelmäßig kommen Aktivistinnen und Aktivisten ins Gefängnis, die sich für die Freiheit in Hongkong engagieren. Und deswegen war wirklich die größte Herausforderung sicherzustellen, dass diejenigen von unseren Protagonistinnen und Protagonisten, die anonym bleiben wollen, auf jeden Fall anonym bleiben können und dass auch alle anderen nicht in Gefahr gebracht werden. Und dadurch haben wir nur verschlüsselt kommuniziert. Wir haben weder ‚WhatsApp‘ noch ein normales E-Mail-Programm, geschweige denn Twitter oder ähnliches genutzt. Bis heute folgen wir auch keinem von unseren Protagonisten zum Beispiel auf Social Media, weil wir wirklich versuchen, jegliche Spuren zu verdecken und zu verwischen, um niemanden zu gefährden. Das war mit Sicherheit die größte Herausforderung.“

(Leonie von Randow)

Jonas Feldt sprach auch über die emotionale Belastung, die Sorgen, die sich das Team fortgesetzt um die Protagonist(inn)en gemacht habe, zum Beispiel am 1. Oktober, dem chinesischen Naionalfeiertag, an dem eine große Demonstration in Hong Kong stattfand:

„Und da gab es auch Momente, in denen wir mehrere Stunden lang nichts von unseren Protagonistinnen und Protagonisten gehört haben und wir dann plötzlich Nachrichten erhielten wie ‚Hey, mein Freund wurde gerade verhaftet‘. Und da macht man sich trotz der journalistischen Distanz, die man eigentlich wahren will und wahren soll, schon Sorgen um die Person und überlegt sich, was man tun kann. Wenn man aus Deutschland agiert, kann man relativ wenig tun. Und das ist eigentlich auch nicht unsere Aufgabe. Wir müssen unsere Quellen und unsere Kontakte schützen, aber wir müssen trotzdem auch die journalistische Distanz achten.“

(Jonas Feldt)

Auf der Suche nach potentiellen Tagebuch-Schreiber(inne)n hatte das Projektteam in sozialen Netzwerken gesucht, „welche prominenten Figuren oder welche weniger prominenten Figuren sich stark machen und engagieren wollen“ (Jonas Feldt) und dann, immer vorsichtiger werdend, den Kontakt zu ihnen intensiviert. „Erst als wir wirklich sicherstellen konnten, dass wir eine sichere Verbindung haben, sind wir mit Details auf sie zugegangen, was jedoch ein wenig gedauert hat.“

Ziel war es, ein breites Spektrum abzubilden, ältere und jüngere Protagonist(inn)en, Männer und Frauen, Menschen aus unterschiedlichen Berufen, die auch gezielt gesucht wurden, ein Künstler, eine Journalistin, politische Aktivisten.

„Wir haben zum Beispiel eine Protagonistin, die ich zusammen mit einer Kollegin betreut habe. Sie ist Journalistin, nannte sich Irene und ist bei uns anonym geblieben. Sie kam aus relativ privilegierten Verhältnissen und hatte auch eine andere Staatsbürgerschaft, also nicht nur den Hongkonger Pass und hätte dadurch jederzeit fliehen können. Andere haben jedoch nur einen Hongkonger Pass und haben gar nicht die Möglichkeit das Land zu verlassen, was noch mal eine ganz andere Geschichte ist. Ob man immer im Hinterkopf hat: ‚Ich kann jederzeit gehen, wenn es hier zu brenzlig wird‘, oder ob man darauf angewiesen ist, dass in dem Land sich alles zum Guten wendet.“

(Leonie von Randow)

Sicherheit war ein herausragendes Element in diesem Projekt: auf der einen Seite die der Teilnehmenden in Hongkong, auf der anderen der Schutz vor möglichen Hackerangriffen.

Beides war der Grund dafür, dass die Beteiligten „sehr stark darauf geachtet haben, keinerlei Spuren zu hinterlassen. Wir haben sogar von jedem Foto, was wir bekommen haben, die Metadaten entfernt und sämtliche Sicherheitsvorkehrungen getroffen, um niemanden in Gefahr zu bringen. Außerdem um uns nicht dieser Gefahr auszusetzen, dass wir angegriffen werden könnten.“ Leonie von Randow)

Beide Interviewpartner schilderten darüber hinaus, wie sie einerseits journalistische Distanz wahren und objektiv und realitätsnah berichten wollten (und dies auch geschafft haben), andererseits die stetige Sorge um ihre Hongkonger Gesprächspartner mitgeschwungen ist.

„Wir haben teilweise auch sehr emotionale Nachrichten bekommen. Zum Beispiel bei der Protagonistin ‚Rebel‘, die auch anonym bleiben wollte, kam in jeder zweiten Nachricht, die sie geschickt hat, auch Schluchzen vor, sie bricht teilweise in Tränen aus. Das nimmt einen schon mit, es kann einen gar nicht kalt lassen.“

(Jonas Feldt)

„Zudem waren zwei oder drei von unseren Protagonisten am Ende anonym, die anderen aber nicht. Und natürlich macht man sich gerade um die Sorgen, die sich ganz klar zu dem Projekt bekannt haben. Ein paar von ihnen waren relativ prominent in Hongkong, weil sie politisch aktiv waren oder, wie zum Beispiel Kacey, als Künstler. Sie haben sich also überhaupt nicht versteckt. Wenn man mit seinem Namen und seinem Gesicht an so einem Projekt teilnimmt, dann ist das Risiko ja noch mal ein bisschen höher. Insofern haben wir uns sowohl Sorgen um die gemacht, die nicht anonym geblieben sind, als auch um die, die anonym bleiben wollten.“

(Leonie von Randow)

Übrigens:
Bei den GOA talks im November 2021 befand sich Jonas Feldt im Gespräch mit Floriane Azoulay, der Direktorin der Arolsen Archives, die ebenfalls ein kreatives Format für eine Projektarbeit gewählt hatte. Bei Interesse: Hier geht es zu der Aufzeichnung

Quellen auf einen Blick:
Die GOA-Projektbeschreibung.
Das quergewebt-Interview mit Leonie von Randow und Jonas Feldt.  
Die Website der „Hong Kong Diaries
Der YouTube-Kanal des Projekts und der Dokumentarfilm.